Kurzgeschichten

Mit jeder Böe verdichtete sich das Schneegestöber. Obwohl keine neuen Flocken vom Himmel fielen, starrte Wrezia auf eine nahezu undurchdringliche, weiße Wand. Der aufbrausende Wind fuhr unter ihre mitgenommene Kleidung, raubte ihr die letzte Körperwärme und versteifte die Muskeln unter der gräulich, grünen Haut. Die kleinen gelben Augen des Goblinweibchens suchten panisch nach einem Unterschlupf. Siebzehn Winter hatte sie bisher miterlebt, doch dieser sollte vermutlich ihr letzter werden. Keiner Sprache mächtig, quiekte sie trotzig auf und kämpfte sich durch die Schneemassen.
 
Ihr Stamm lebte tief im Gebirge. Abgeschieden von anderen Goblins aßen sie vorrangig Wurzeln, Beeren und wildes Ziegenfleisch. Die störrischen Tiere hatten sich längst in tiefere Regionen zurückgezogen und die karge Pflanzenwelt wartete unter der weißen Schicht auf wärmere Zeiten. Obwohl sie genügend Nahrungsvorräte gesammelt hatten, war Wrezia hinausgestapft. Skarz, ihr Junges, litt an einem heftigen Fieber. Vom restlichen Stamm separiert, damit die Seuche sich nicht ausbreiten konnte, wartete der Goblin auf den Tod. Doch die Goblinmutter konnte sich nicht damit abfinden.
 
Mit einigen Vorräten verließ sie die Höhlen auf der Suche nach Grondul-Kraut. Ein Allheilmittel, welches mit etwas Glück auch im Winter zu finden war. Zumindest für jene, welche die geschützten Stellen kannten, wo es seine Wurzeln ins Gestein grub. Wrezia wusste von solch einem Felsvorsprung, groß genug, um etwas Schnee und Kälte abzuhalten. Doch bei diesem Treiben wirkte die Suche zunehmend auswegloser.
 
Wrezia setzte dennoch stur einen Fuß vor den anderen. Die eng um ihre Kleidung gewickelten Lederstreifen mit struppigem Ziegenfell waren längst steif und schützten sie nicht länger vor den eisigen Temperaturen. Stattdessen erschwerte das Material unter lautem Knarzen jede Bewegung. Der darunterliegende Stoff hatte sich zunächst mit tauendem Schnee vollgesogen, als die Haut des Goblinweibchens diesen noch zu erhitzen vermochte. Nun froren die getränkten Fetzen allmählich ein. An Aufgeben dachte sie trotz allem nicht. Wenn sie starb, starb auch ihr Junges.
 
Müde wischte sie einige Schneeflocken von ihren Augen fort. Mittlerweile war Wrezia unsicher, ob sie noch auf dem richtigen Pfad wandelte. Die tanzenden, weißen Flocken beraubten sie jeder Orientierung und das Gestein zu ihren Füßen, welches sie in- und auswendig zu kennen glaubte, war ebenfalls von Schnee bedeckt. Da sich immer mehr Flocken an ihrem Gesicht verfingen, musste sie diese erneut beiseite wischen. Die unterdessen blaugrüne Haut bot genügend Restwärme, damit die Schneekristalle hafteten, aber zu wenig, um sie als Tauwasser abfließen zu lassen.
 
Eine starke Böe warf das Goblinweibchen von den Beinen. Fast hätte sie vor Verzweiflung aufgeheult, aber Skarz‘ Lächeln erschien vor ihrem inneren Auge. Mit letzter Kraft stemmte sie sich nach oben. Ihre steife, linke Hand verharrte schützend vor den gelben Äuglein, während ihre Füße sich vorsichtig über den Untergrund schoben. Das weiße Treiben war so dicht, dass sie einen steilen Abhang selbst dann nicht erkannt hätte, wenn er direkt vor ihr läge.
 
Schlagartig flaute der Wind ab. Ebenso plötzlich sanken die glitzernden Kristalle zu Boden und Wrezia konnte sich neu orientieren. Sie war nicht vom Weg abgekommen. Im Gegenteil – nur wenige Schritte von ihrer Position zeichnete sich der Felsvorsprung klar von der einheitlich weißen Welt ab. Wrezia starrte ungläubig auf ihr Ziel. Hätten die Flocken sich nur wenige Augenblicke später gelegt, wäre sie daran vorbeigestolpert. So schleppte sie sich schnaufend in die hinterste Ecke des Unterschlupfs. Ihre starren Finger kramten etwas Dörrfleisch aus den Kleidungstaschen hervor und während das Goblinweibchen sich umsah, schlang sie die Stärkung hinunter.
 
Vor Wind geschützt, war der rotbraune Boden trocken geblieben. Unterhalb des Zugangs lagen vertrocknete Wurzelreste und nicht unweit davon befand sich welkes Grondul-Kraut. Die Wirkung war nicht zu vergleichen, wenn das Gewächs in vollem Saft und Blüte stand, doch diese bräunlichen, schlaffen Überreste waren besser als nichts. Denn die sonst üppigen Wundermittelvorräte des Goblinstammes waren diesen Winter nur so dahingeschmolzen. Zunächst erlagen die Alten furchtbaren Gliederschmerzen, dann die Jungen einem Reizhusten. Als es dann ihren Skarz erwischte, konnten sie ihn lediglich von der Gruppe trennen.
 
Wrezia grunzte glücklich. Sie musste nur noch den Rückweg zu ihren Höhlen antreten. Thahi würde ihr Junges selbst mit diesen kärglichen Grondul-Kraut-Resten zu heilen wissen. Die weise Schamanin verstand sich auf ihr Handwerk. Und solange ihr die Mittel zu Verfügung standen, konnte sie wahre Wunder vollbringen. Das Goblinweibchen vertilgte ihre Vorratsreste und füllte die leeren Taschen mit Wurzeln und allem Pflanzlichen, was sie finden konnte, auf. Mit frischem Mut begab die Goblinmutter sich zurück in die ungeschützte, eisige Kälte.
 
Mit der frischen Hoffnung kehrte auch neue Wärme in Wrezias Glieder zurück. Unter freier Sicht und ohne verlangsamende Luftwirbel bahnte sie sich immer schneller den Weg zurück. Wie durch Zauberhand war die zuvor geschaffene Schneise nicht vollständig verweht worden. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung und aus der vereisten Kleidung dampfte es in den trockenen Winterhimmel. Beinah beschwingt vergrößerte sie den Abstand zum Felsvorsprung. Nicht mehr lange und sie würde Skarz wieder in ihren Armen halten.
 
Kurz bevor die Nacht sich das Gebirge vollständig einverleiben konnte, erfassten ihre gelben Augen die schützende Unterbringung ihres Stammes. Mit glänzender Haut und irrem Blick marschierte sie an ihren erschrockenen Stammesgenossen vorbei. Vorbei an den Wachen am Eingang, vorbei an der zusammengekauerten Meute in ihrer Haupthöhle und vorbei am Zugang zu dem gesunden Nachwuchs. Tiefer ins Gestein hinein, zu ihrem Skarz. Vor dem Eingang des Seitenarms, wo der Goblin seinem Ende entgegensah, erwartete Thahi sie.
 
Ein alarmiertes Grunzen ließ Wrezia Schlimmes befürchten. Dass die Schamanin der Anblick der Goblinmutter besorgte, konnte sie nicht ahnen. Die Angst um ihr Junges, sowie die eisigen Bedingungen zur Kräutersuche hatten dieser stark zugesetzt. Fiebriger als Skarz steuerte sie mit wahnsinnigem Blick zu ihrem Jungen. Beiläufig warf sie Thahi die gesammelten Pflanzen zu und brach neben ihrem ebenfalls blassen, glühenden Skarz zusammen. Ungeachtet ihrer nassen, steifen Kleidung zog sie den jungen Goblin zu sich heran und schlief ein.
 
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Mit der Schneeschmelze strömten die ersten Goblins wieder aus ihren Höhlen, um die geschwundenen Vorräte aufzufüllen und die verstorbenen Stammesmitglieder angemessen zu verabschieden. Dieser Winter sollte als einer der härtesten in ihrem kargen Gebirge in die Geschichte eingehen. Achtundzwanzig Goblins des beschaulichen Stammes waren ihm zum Opfer gefallen. Unter ihnen Wrezia und Skarz. Eng umschlungen erlagen sie, in Einsamkeit und doch miteinander, nahezu zeitgleich ihren Fieberträumen.
 
Die heldenhaften Bemühungen der liebenden Mutter sollten mit Höhlenmalereien an alle künftigen Generationen überliefert werden. Ein eigener Schrein Wrezia zu Ehren erinnert die Jüngsten noch immer, wie ein einzelnes Weibchen mit ihren unter widrigsten Bedingungen gesammelten Kräutern fünf Junge und drei Alte vor dem Wintertod bewahrte, wenngleich die Rettung für ihren eigenen Nachwuchs zu spät kam und die Strapazen das Leben der Mutigen forderten.